ZAGs.
Zauberergrade, für diejenigen, welche diese Abkürzung nicht kennen.
Jedes Schuljahr ist es dasselbe. Am Ende des Jahres, wenn man sich mit Abreißkalendern unweigerlich dem ersten Ferientag nähert, stehen die fünften Klassen Kopf. Die Siebten natürlich auch, aber das habe ich nie als so schlimm empfunden, wie bei den Jüngeren. Ohnmachtsanfälle sind vorprogrammiert. Glücksbringer, Amulette und Talismane werden ins Schloss geschmuggelt. Sämtliche Nerven liegen blank.
Überflüssig, zu erwähnen, dass dies auch immer an meinen Nerven zerrt.
Zu dieser letzten Stunde vor den ZAG-Prüfungen und damit auch der Letzen vor den Ferien ging ich in dem wunderbaren Bewusstsein, dass in zwei Stunden alles geschafft wäre. In zwei Stunden lagen (von den restlichen Stunden in anderen Klassen mal abgesehen) zwei ZAG-freie Monate vor mir. Eine herrliche Vorstellung, muss ich sagen.
Bereits bevor ich die Tür zum Klassenraum aufgesperrt hatte, standen zwei Schülerinnen vor mir und hielten mir einige Aufzeichnungen vor die Nase, während sie versuchten, sich gegenseitig mit in äußerst schrillen Tonlagen gestellten Fragen zu übertrumpfen. Ich lächelte, schob die Pergamentrollen vor meinem Gesicht zur Seite und drehte den Schlüssel im Schloss herum.
Zwei Stunden.
Mit den Schülerinnen im Schlepptau trat ich ein. Die Hitze war so erdrückend, dass die Beiden - Julia Rigby und Helen Chambers – tatsächlich einen Augenblick lang verstummten, was mir die Gelegenheit gab, meine Tasche geräuschvoll auf dem Lehrerpult abzulegen, mich umzudrehen und lächelnd mit einer Hand auf die Fenster zu weisen.
“Miss Chambers, wenn sie so freundlich wären, die Fenster zu öffnen. Miss Rigby, die Tafel müsste gesäubert werden, bevor der Unterricht beginnt!“
Ich schlug einen freundlichen Ton an, der jedoch keine Widerrede zuließ. Verwirrt blickten die beiden sich kurz an, legten dann die Aufzeichnungen auf ihre nebeneinander liegenden Plätze in der ersten Reihe und wandten sich den von mir erteilten Aufgaben zu.
“Sie können ihre Fragen gleich während des Unterrichts stellen. Ich bin sicher, auch die übrigen Schüler interessieren sie“, fügte ich hinzu und nahm meine Tasche wieder vom Pult.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis auch der Rest der Klasse eintrudelte. Die meisten sahen nicht unbedingt begeistert aus, doch das war ich aus den Geschichtsklassen, die nicht UTZ-Kurse waren, mehr als gewöhnt. Es gab nur wenige Schüler, die sich wirklich für die Vergangenheit der magischen Welt begeistern konnten, was ich durchaus tolerierte – auch, wenn es mir unverständlich war. Mitarbeit und Disziplin erwartete ich trotzdem von jedem Schüler.
Vom Pult aus ließ ich meinen Blick über die Schüler wandern und versuchte, mir vorzustellen, wer welche Note bei den ZAGs erreichen würde. Bei einigen war es mehr als offensichtlich, dass sie in Geschichte durchfallen würden. Bei anderen hegte ich sogar die Hoffnung, sie nächstes Jahr im UTZ-Kurs begrüßen zu dürfen. Dann würden es natürlich sehr viel weniger Schüler sein, aber da diese auch – fast – ausnahmslos mit Begeisterung beim Unterricht dabei waren, gab es ein sehr viel besseres und produktiveres Arbeitsklima in diesen Klassen. Ich freute mich bereits darauf.
“Guten Morgen!“, fing ich an, stieß mich leicht von der Kante des Pults ab, an welcher ich die letzten Minuten lang gelehnt hatte, und ging den Mittelgang entlang durch die Reihen.
“Dies ist die letzte Stunde Geschichte der Zauberei vor den ZAGs. Wir werden daher mit der Wiederholung fortfahren, die wir in den letzten Stunden angefangen hatten, danach können sie noch einmal beim Lernen aufgekommene Fragen stellen, und zum Schluss werde ich ihnen zwei Übungsaufgaben geben, wie sie vielleicht in den Prüfungen gestellt werden könnten.“
Es war immer heikel, solche Aufgaben zu verteilen, da keiner der Lehrer vor den Prüfungen wusste, welche Aufgaben letztendlich drankommen würden. Trotzdem hatte ich bisher jedes Schuljahr ein oder zwei Fragen an die Schüler gegeben, damit sie darauf vorbereitet waren, wie das Aufgabenblatt in etwa aussehen würde und auf welchem Niveau die Fragen liegen würden. Ich fand dies nur fair.
“Fangen wir also an, damit wir die zwei Stunden gut nutzen können. Wir waren stehen geblieben bei der vorläufigen Auflösung des Zauberergamots durch die Zaubereiministerin Phileanne McDovel im Jahr 1489. Als Gründe dafür hatten wir aus einer von ihr persönlich verfassten Erklärung an die Öffentlichkeit folgendes herausgearbeitet…“
Ich habe im Laufe der Jahre herausgefunden, dass es am besten ist, wenn man je nach Klasse bestimmt, welche Art von Wiederholung am effektivsten ist. In manchen Klassen war es am besten, wenn ich selbst möglichst viel in einem Vortrag vorgab und die Schüler mitschreiben und gelegentlich Fragen stellen konnten. In Anderen war es möglich, dass ich selbst Fragen zum zu wiederholenden Stoff stellte und die Schüler sie beantworten mussten. Wünschenswert wäre für alle Klassen die letzten Methode, denn sie verringerte das Risiko, dass mehr als fünfzig Prozent der Schüler während des Mitschreibens einschliefen. Doch man kann eben nicht alles haben.
Für diesen Jahrgang war die zuerst genannte Methode jedenfalls sinnvoller, da ich sonst nur mit vier oder fünf Schülern ordentlich arbeiten könnte. Also wiederholte ich mit der Klasse seit Wochen den gesamten Stoff der letzten fünf Schuljahre, immer indem ich auf und ab ging, erzählte und auf Fragen wartete.
Nach einer guten Stunde trat ich endlich wieder nach vorne an das Pult, legte meine Notizen beiseite und trank den letzten Schluck Wasser aus dem Glas, welches ich mir während des Vortrags herbei gezaubert hatte. Von den Schülern hörte ich das emsige Kratzen der Federn auf Pergament, gelegentlich von leisem Rascheln unterbrochen. Nach ein paar Minuten wurde es endgültig still.
“So. Wir wären dann fertig mit der offiziellen Wiederholung. Sie war darauf ausgerichtet, dass sie einen guten Überblick über den Stoff der letzten Jahre bekommen, aus dem die eher unwichtigeren Dinge, mit denen wir uns während der Stunden beschäftigt haben, herausgenommen wurden. Natürlich ist es trotzdem sehr viel, aber ich bin mir sicher, wenn sie die Zusammenhänge begriffen haben, sollte es trotzdem ein gut zu schaffendes Pensum sein. Jetzt können sie gerne Fragen stellen!“
Eine weitere halbe Stunde verbrachte ich damit, die Fragen der Schüler zu beantworten, letzte Missverständnisse zu korrigieren und dann endlich die beiden von mir vorbereiteten Aufgaben auszuteilen. Ich gab ihnen zehn Minuten Zeit, sich in Stichworten zu notieren, wie sie diese Aufgaben lösen würden, dann sprachen wir sie gemeinsam durch. Ich war positiv überrascht, muss ich sagen, dass es doch einige Schüler waren, die sehr gut mit den Aufgaben zurecht gekommen waren.
“Wenn nun keine weiteren Fragen mehr vorhanden sind, wünsche ich ihnen viel Erfolg für die Prüfungen. Sie alle – nun ja, fast alle – sind meiner Meinung nach in der Lage, die Prüfung im Fach Geschichte der Zauberei zu bestehen. Eine Note unter einem A ist denke ich nicht nötig. Nun denn…da dies auch die letzte Stunde vor den Ferien ist: Frohe Ferien. Ich hoffe, einige von ihnen danach noch einmal wieder sehen zu dürfen!“
Nachdem ich dies gesagt hatte, setzte Unruhe ein, die Schüler packten ihre Sachen ein und verließen allein oder in Gruppen das Klassenzimmer. Auch ich suchte meine Unterlagen zusammen und ging in Richtung meines Büros davon. Von jetzt ab konnte ich auch nichts mehr für die Noten der Schüler tun.
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